Dienstag, 15. November 2011

Keine Freunde: Äolus und Faust


Manchmal vergesse ich, wer ich überhaupt bin. Vor ein paar Tagen liebäugelte ich noch mit einer Karriere in der Politik und hoffte, in meiner freien Zeit im Stile Manni Matters oder Hannes Waders eigene Lieder zu schreiben und vortragen zu können.

Hannes Waders Kultlied "Heute hier, morgen dort": Schön, und inhaltlich herrlich naiv.


Diese Vorstellung wich jedoch bald der Idee einer Laufbahn als Schachmeister (zum gedanklichen Sprung von Politik zu Schach verhalf mir die Erinnerung an Gari Kasparov . Ich gab mich nächtelang Online-Schachspielen hin. Am nächsten Tag liebäugelte ich mit der Vorstellung Koch zu werden und ausgiebiges Kochen mit ausgewählten Nahrungsmitteln stand zuoberst auf meiner Prioritätenliste. Einige Stunden später aber vergass ich das Kochen gänzlich und ernährte mich ausschliesslich von Brei und Teigwaren mit Olivenöl. Wichtig erschien es mir dabei nuir, meinen Körper ausreichend mitnKohlenhydrate zu versorgen, damit er am Abend im Hallenbad maximale Leistung erbringen konnte. Ich nahm mir nämlich vor, am Ironman Switzerland 2012 teilzunehmen (dort müssen 3,86km schwimmend zurückgelegt werden).

So verzettelte ich mich ganz in meinen Zielen und Wünschen.

Diese Unbeständigkeit wird mich noch in den Ruin führen, denke ich mir. Ich blicke in meinem Zimmer umher. Es ist nicht gerade klein, doch ist es "vollgepropft" mit allen möglichen Dingen - aktuellen und vergangenen Leidenschaften. Es fällt mir dabei eine Passage aus Goethes Faust I ("Nacht") ein:
"Weh! Steck' ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch,
Wo selbst das liebe Himmelslicht
Trüb durch gemalte Scheiben bricht!
Beschränkt von diesem Bücherhauf,
Den Würme nagen, Staub bedeckt,
Den, bis ans hohe Gewölb' hinauf,
Ein angeraucht Papier umsteckt;
Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt,
Mit Instrumenten vollgepropft,
Urväter-Hausrat drein gestopft -
Das ist deine Welt! das heisst eine Welt!"
So nehme auch ich mein Zimmer wahr. Doch eigentlich geht es gar nicht um mein Zimmer, sondern um die Frage: Wieso nehme ich dieses auf diese Art und Weise wahr? Die Antwort darauf scheint auf der Hand zu liegen. Doch mache ich nichts dagegen. Stattdessen irre ich weiter in den Niederungen meiner tierisch-menschlichen Natur umher.

Verzweiflung eines Menschen, der die Welt umarmen möchte: Faust in seinem Studierzimmer.

Den von den griechischen Göttern als Hüter der vier Winde eingesetzten Äolus mochte ich bisher noch nie. Doch jetzt kann ich ihm viel Nützliches abgewinnen. Ich sehe in ihm nämlich das personifizierte Pflichtgefühl, dass die Leidenschaften (im Mythos: die Winde) bändigen soll, welche - würde er ihnen freien Lauf lassen - alles zerstören würden. Zudem: Wer wagt sich auf ein solch stürmendes Meer hinaus, wie es der japanische Künster Hokusai so lebendig darzustellen vermochte?

Farbholzschnitt des Künstlers Hokusai: "Die grosse Welle von Kanagawa" (1830)

Faust hätte wohl besser daran getan, seinen Maximalismus aufzugeben. Er hätte jemanden wie Äolus gebraucht.

Montag, 14. November 2011

"Jahrmarkt der Eitelkeit"


Bei der heutigen IQ-Testung mittels des IST-2000-R habe ich einen Wert von 121,5 erhalten. Damit besetzte ich einen Prozentrang von ca. 91%: 91% aller Menschen sind schlechter oder gleich gut wie ich. Dieses Ergebnis erfüllte mich zuerst Stolz, doch jetzt macht es mich nachdenklich. Darf ich denn überhaupt von "Stolz" reden? Vermutlich wäre "Eitelkeit" die treffendere Bezeichnung, denn eine "Leistung" im Intelligenztest ist eigentlich viel mehr eine Gabe und Talent denn eine Leistung im Sinne eines Resultates, zu dem man durch Arbeit und Fleiss gelangt ist.

Darf ich stolz auf mich sein? Ein Bungee-Jump an sich ist noch keine Leistung. Es bleibt entscheidend, wie viel Überwindung und somit "Charakterarbeit" nötig war.

Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten im Matthäusevangelium hat sich gerade dies zum Thema gemacht. Es sagt uns: Eigentum verpflichtet. In Anlehnung an diese Parabel reden heutige Soziologen von dem sogenannten Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Ein weiteres Ansporn und – viel entscheidender – eine grössere Pflicht für die, die talentiert sind.
Und ich erscheine vor diesem Hintergrund noch viel pflichtvergessener als ich es sonst schon in der eitlen Welt bin. Der Philosoph Blaise Pascale schrieb einst, dass die, welche die Eitelkeit in der Welt nicht bemerken, selbst eitel sind. Dies schliesst aber nicht aus, dass man eitel sein kann und gleichzeitig die "Eitelkeit in der Welt" bemerkt.
So scheint es drei Gruppen von Menschen zu geben: Die eine fröhnt den weltlichen Dingen – ohne aber sich dessen wirklich gewahr zu sein und nur im Kleinen (aus Mangel an Mitteln). Die andere fröhnt auch den weltlichen Dingen – sie ist sich dessen aber mehr oder weniger bewusst und hat ihre Gefallsucht zu ihrem Lebenszweck erhoben. Die dritte Gruppe wendet sich ab oder hat sich schon abgewendet von der Vanitas und sieht nur in der Regung des Lebens, im aktiven Tun die wahre Freude winken. Ich selbst sehe mich der dritten Gruppe zugewandt, doch trotz immer sichererer Schritte verfalle ich oft der Versuchung des Irdischen und gehe den alten sündhaften Gewohnheiten nach. (Cicero: Consuetudo secunda natura homini est.)

Eitelkeit hiess in früheren Jahrhunderten soviel wie "Vergänglichkeit" (lat. vanitas). Heute ist dieser Gedanke kaum mehr präsent. Verdrängt von einem Kult ewiger Jugend. Bild: Tax-Free-Shop in einem Flughafen.